2017 – Von Paris nach Berlin, fuer die “Vereinigten Staaten Europas”, fuer ein anderes Europas

 

In den letzten Jahren rief unsere kleine “Repubblica Nomade“ sechs lange Fußreisen ins Leben, vier in Italien; zwei von Italien aus mit Ankunft in zwei wichtigen europäischen Städten, deren Name viel aussagt: Straßburg und Sarajevo.

Wir werden dieses Jahr von Paris nach Berlin wandern. Es wird unsere erste Wanderung sein, die sich vollständig außerhalb unserer Landesgrenze und ausschließlich im Herzen Europas vollzieht.

Das Europa der letzten Jahre ist mit Gefahren trächtig. Phantasmen und Dämonen wüten hitzig in seinen Eingeweiden: Wirtschaftskrise, sich verbreitende Arbeitslosigkeit und Zeitarbeit bei Jugendlichen, wachsende soziale Ungleichheit, blinder Terrorismus in seinen

besonders untolerierbaren und hässlichen Formen. Ein großer Einwandererstrom überflutet unseren Kontinent und löst Unsicherheit, Ängste und Abneigung aus, die manche skrupellose Politiker zu eigenen Zwecken ausnützen, man kann diese als Zauberlehrlinge betrachten, die mit dem Feuer spielen. Es fehlt an einem gemeinsamen, noblen Idealbild. Eine einseitige Sicht auf eine einzige, wirtschaftliche Dimension führt uns nun dagegen zu einer neuen Tyrannei. Die Demokratie entartet. Es schwindet die Erinnerung daran, was in unserer jüngsten und furchterregenden Geschichte passierte. Immer neue und bösartige Demagogie dringt in das soziale Netzwerk ein, Rassismus, Fremdenhass steigen. Wir vermissen jenen grundsätzlich und allgemein anerkannten Horizont, der einmal Gemeinwohl hieß. Es herrschen heute selbstzerstörerische Verblendung und Instinkte. Neufeudale Nostalgien nach kleinen autochthonen, glücklichen und vollkommenen, eigenen Staaten leben auf, als ob ein solcher verkehrte Weg in der gegenwertigen überbevölkerten und übervernetzten Welt möglich wäre, in der etablierte oder aufsteigende Großmächte daran sind, um unseren Planeten zu streiten, der zugleich von unserer gierigen und selbstmörderischen Gattung unbewohnbar gemacht wird. Als ob die Zergliederung und Parzellierung der Erde eine Lösung wäre, als ob dies alles nicht zur gefährlichen Abschwächung der einzelnen, entstehenden Staaten und Ländereien führen würde. Das kannten wir, Italiener, in den vergangenen Jahrhunderten allzu genug. Als ob nicht gerade dasselbe wieder herauskäme, nämlich dieselbe Unterdrückung und dieselben Konflikte, sei es auch in kleineren Maßstäben.

Wegen dieser Umstände wird das «Manifest von Ventotene» – ein von Altiero Spinelli und Ernesto Rossi geschriebenes Skript der Richtungsweiser unsrer Fußreise sein. Dieses Manifest wurde 1941 aus einem faschistischen Gefängnis hinausgeschmuggelt, wo diese scharfsichtige Bilanz über unseren durch zwei verheerende Weltkriege und ihre nationale, wirtschaftliche und innere ideologische Dynamik in die Knie gezwungenen Kontinent entstand. Das Manifest enthielt aber auch eine ambitiöse Vorstellung von einem europäischen Bündnis, den «Europäischen Vereinigten Staaten». Dieser Vorsatz ist einer der am meisten bestimmenden Beiträge zu den ersten Formen der europäischen Zusammenballung gewesen. Das wurde durch die Weitsicht italienischer, französischer und deutschen Politiker wie Monnet, Adenauer, De Gasperi und Schumann ermöglicht. Heute, in dieser schwierigen, gefahrvollen Übergangszeit, ist dieser Vorsatz noch mehr gültig und dringend, er ist das einzige Gegenmittel im geopolitischen Rahmen unserer Epoche gegen das Schicksal eines Zusammenbruchs, einer Zergliederung und Bedeutungslosigkeit unseres Kontinenten.

Selbstbezogenheit und Blindheit des wirtschaftlichen Bereichs einerseits und das Suchen nach leichteren und kurzatmigen Lösungen andererseits untergraben in diesen Jahren jene Idealvorstellung, die die Kraft einer Leitidee, eines Traumes und einer realistischen Klarheit in sich vereinigte. Der politische Kampf in unserem Lande und in Europa zeigt nun das Bild einer selbstmörderischen Bosheit. Er erinnert an eine tollwütige Hundemeute am Rande eines Abgrundes, in der die Tiere sich gegenseitig blutig beißen. Kleine Despoten ringen mit vereinfachenden Erklärungen um die Stimme verwirrter, gedächtnisloser Wähler. In einer solchen Lage scheint es uns dringend, ja sogar eine Frage von Leben und Tod zu sein, den gegenwartsnahen Inhalt dieses Manifestes ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Das wollen wir aber nicht allein mit bloßen Worten und Ermahnungen, sondern mit einer über tausend Kilometer langen Wanderung tun. Sie bildet gewissermassen einen lebendigen Fluss von Körpern und Leben, von Leidenschaften und Verzweiflungen, Wünschen und Träumen.

Zwei wichtige kontinentale Hauptstädte Europas haben wir ausgewählt, deren Beharrlichkeit für Europa lebensnotwendig ist, damit unser Kontinent nicht wie eine tönerne zwischen zwei eisernen Vasen dasteht. Wir haben Paris und Berlin als Ausgangs- und Endpunkt auch wegen ihrer Bedeutung für unser gegen den Strom gerichtetes Anliegen um eine föderative Einheit unter Staaten gewählt. Sie haben einander im Laufe der Zeit hart bekämpft und sie sind nun dabei zu versuchen, etwas bisher Unbekanntes und Beispielhaftes ins Leben zu rufen Wir wollen aber auch unsere Solidarität und Zuwendung gegenüber diesen Ländern erklären, die unlängst von Terroranschlägen heimgesucht wurden und durch denselben Schmerz verbunden sind.

Wir bitten die Einwohnergemeinde der Insel Ventotene, uns mit dem Zeichen ihrer gleichen Gesinnung zu begleiten, da unsere diesjährige Reise nicht nur horizontal sondern auch Vertikal im Raum und Zeit ablaufen sollte. Auf dieser kleinen italienischen Insel fand nämlich eines ihrer wichtigsten Ereignisse statt. Hier wurde dieser große Traum geboren, den wir wieder vergegenwärtigen wollen.

Wir bitten auch die Städte Paris und Berlin auch ihre Einwohner, auch Wander- und andere Vereine, ihre Sympathie zu bezeugen. Wir möchten mit unserer auf grundsätzlich freiwilliger Basis durchgeführten, gemeinsamen und sehr langen Fußreise zeigen, dass es möglich ist, auch wenn alles gesperrt zu sein scheint, wieder Vorwärts zu gehen, auch, dass sowohl einzelne Personen wie auch Völker die beschränkenden Mauer des Kerkers abreißen können, wo man sie gefangen halten will.

Wir bitten die Behörden beider Hauptstädte und der Gemeinden, deren Gebiet unser Weg durchkreuzt, unsere kleine, aber eine Botschaft ausstrahlende Unternehmung zu unterstützen. Eine Unterstützungsart könnte sein, dass manche Menschen von dort, sei es auch nur für eine kleine Strecke, mitwandern wollten. Eine andere Form der Unterstützung wäre, uns eine logistische Hilfe zu geben, indem sie dieser europäischen Karawane eine geeignete Lokalität wie zum Beispiel einen Turnsaal für jeweils eine Nacht zur Verfügung stellten, wo wir unsere Schlafsäcke ausbreiten und vorhandene sanitäre Anlagen nutzen können.

Der Versuch, den wir unter tausend Schwierigkeiten wagen, könnte eine Ankündigung einer anderen Möglichkeit für den ganzen Planeten sein, der vor dem Abgrund immer neuer und zerstörerischer Kriege um Hegemonie und Besitz seiner letzten Reserven steht. Wenn der Versuch einer anderen Möglichkeit misslingt, wenn ihn Blindheit, nationaler Egoismus, wirtschaftliche Gewaltherrschaft und Einmischung fremder Staaten verunmöglichen, so werden wir in die Richtung einer schiefen und unsicheren Ebene gelenkt. Es werden Breschen entstehen, die, verhängnisvoll, gefüllt werden müssen. Das alles wird zunächst zu politischen, dann aber zu militärischen Auseinandersetzungen führen.

Wir wollen hier nicht sagen, dass wir uns mit einem Europa, wie es heute existiert, zufriedengeben. Das Europa von heute achtet ja allein auf seine wirtschaftliche Logik und Zwänge. Das ist aber gerade eine Gesinnung, die eine wahre europäische Föderation verunmöglicht und das Risiko von Zerwürfnissen und Kriegen auch auf unserem Kontinent wahrscheinlich macht. Es gibt eine dringende Notwendigkeit für ein einheitliches, freies starkes und gerechtes Europa einzutreten, so wie das von seinen weitsichtigen Begründer vorgestellt wurde, eines, das für die «Europäische Vereinigten Staaten» Voraussetzungen schaffen würde, eben, für ein anderes Europa.

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